Die Zumutung des Glaubens in unserer Zeit
Vortrag in Remscheid am 29.9.2003.
Sehr verehrte Damen, meine Herren,
mit dem Kreuzzeichen beginnen und beenden wir jedes Gebet und jeden Gottesdienst. Wir segnen uns mit diesem Zeichen: einem Hinrichtungsinstrument. Eltern bezeichnen ihre Kinder damit. Das Kreuz hängt in jeder christlichen Kirchen und in den Häusern der Christen. Das Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts vor einigen Jahren hat der Anstößigkeit dieses Zeichens für Nichtchristen Rechnung getragen. Eine Anstößigkeit, die wir als Christen vielleicht gar nicht mehr bemerken: Es ist doch ein antikes Folterinstrument, das für uns zum Heils- und Segenszeichen geworden ist. Die christliche Botschaft mutet sich mit diesem Paradoxon zu: das Kreuz, Zeichen der Hoffnung; im Tod ist das Leben; der Herr ist der Knecht; Gott kommt als Mensch usw. Das sind ungeheuerliche Aussagen, die ihre Wirkung erst entfalten, wo sie geglaubt und gelebt werden.
Demgegenüber ist unser Bild vom Christentum und von Religion im allgemeinen wohl eher harmlos, damit aber auch belanglos. Vielleicht erschrecken wir auch, wenn wir heute mit dem Islam oder mit besonders kämpferisch auftretenden Strömungen desselben konfrontiert werden und darin einer lebendigen und kraftvollen Religion begegnen, die sich nicht einfach in unser harmloses Bild von Religion einfügt.
Der Glaube – ein Ärgernis?
Auch schon nach dem Zeugnis des Neuen Testaments stellt der Glaube an Christus für den Menschen eine Zumutung dar. Paulus bezeichnet ihn als Ärgernis (skandalon) für die Juden und als Torheit für die Griechen (vgl. 1 Kor 1,23). Denn der Glaube an den Christus ist Glaube an einen Gekreuzigten. Was kann in den Augen eines weisheitsliebenden Griechen törichter sein, als seine Heilshoffnung an einem als Verbrecher Gehenkten festzumachen? Und woran kann ein Jude mehr Anstoß nehmen als daran, einen augenscheinlich von Gott Verlassenen für den Messias zu halten (vgl. Mk 15,29–32)? In der Tat hat Paulus deutlich gesehen, daß die Verkündigung des Gekreuzigten kein Korrelat in der Erfahrung seiner beiden Adressatengruppen finden konnte. Sie waren beide im Grunde für die christliche Botschaft nicht ansprechbar, wie Paulus selbst auf dem Areopag zu Athen erleben mußte (vgl. Apg 17).
Wird aber dieser ärgerniserregende Charakter der christlichen Botschaft, ihre skandalöse Torheit in den Augen der Welt, in der durchschnittlichen kirchlichen Verkündigung noch deutlich herausgestellt? Wer ärgert sich noch an der christlichen Botschaft? Wer empfindet sie als Zumutung? Wer setzt sich noch mit dieser Unzumutbarkeit auseinander und ringt um die Frage, ob sich in ihr nicht doch die ganze Wahrheit über Mensch und Geschichte offenbart?
Das heißt natürlich nicht, daß man keinen Anstoß mehr an der Kirche nähme. Diesen gibt es zur Genüge. Man nimmt Anstoß an der Morallehre des Papstes, vor allem an seiner Sexualmoral, die so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheint. Man nimmt Anstoß an den undemokratischen Strukturen und Entscheidungswegen innerhalb der kirchlichen Hierarchie. Man nimmt Anstoß am Pflichtzölibat und an der Weigerung, Frauen zu Priestern zu weihen, nichtkatholische Christen zur Kommunion einzuladen und geschiedene und zivil wiederverheiratete Katholiken dazu zuzulassen. Die Liste könnte noch fortgesetzt werden. Und sicher wird an manchem nicht immer zu Unrecht Anstoß genommen. Aber andererseits wird oft der Anschein erweckt, als dürfte uns der Glaube keine wirklichen Schwierigkeiten und Konflikte mit uns selbst und mit unserer Umwelt abfordern
Doch dabei tut man so, als ob alles gut sein könnte, wenn endlich der Reformstau innerhalb der Kirche abgetragen wäre. Wenn die Kirche durch ihre Praxis nicht mehr unsere Selbstverständlichkeiten in Frage stellte, gäbe es eine Problemzone weniger. Wir könnten mit der Kirche friedlich koexistieren und wieder Freude daran haben, zu ihr zu gehören.
Wann aber werden wir uns wieder an der christlichen Botschaft ärgern? Wann werden wir sie so in unserer Gesellschaft zur Sprache bringen, daß ihre Torheit, ihr ärgerniserregender Charakter und damit ihre eigentliche Unzumutbarkeit wieder zum Vorschein kommt und es tatsächlich wieder etwas kostet – auch an gesellschaftlichem Ansehen – sich zu Christus zu bekennen? Wann werden wir die ganze Torheit des christlichen Glaubens wiederentdecken? Wie können wir die Zumutung und Torheit des Glaubens für unsere Zeit neu zur Sprache bringen?
Der ärgerniserregende Charakter des Glaubens besteht ja nicht zuerst darin, daß er unser Leben kritisiert und unsere Lebensentwürfe und -vollzüge in Frage stellt. Zuvörderst besteht er darin, uns zuzumuten, etwas als letzte Gewißheit anzunehmen, was sich mit unseren Erfahrungen nicht bestätigen läßt. Er ist also zuerst eine Zumutung an unser Denken, erst dann auch an unser Handeln. Nicht von ungefähr lautet der evangelische Umkehrruf „metanoeite"(Mk 1,15). Er verändert unser Leben gerade dadurch, daß wir diese Zumutung an unser Denken und unser Vorverständnis annehmen und unser Leben jetzt in etwas anderem gründen als in den Plausibilitäten unserer Erfahrungen.
Das Ärgernis des Kreuzes und die Belanglosigkeit heutiger Verkündigung
Das aber würde bedeuten, die christliche Botschaft von einer religiösen Weltanschauung zu unterscheiden und sie aus der gesellschaftlichen Belanglosigkeit zu befreien, in der sie sich gegenwärtig befindet und die sicher auch damit zu tun hat, wie die Kirche sich dem Zeitgeist und den standardisierten Lebensmustern anpaßt und wie sie sich weigert, kritische Kraft in einer von einem fast totalen Markt beherrschten Gesellschaft zu entfalten. Denn Tatsache ist, daß die christliche Botschaft, so wie sie von den Großkirchen heute dargestellt und ausgelegt wird, der Gesellschaft immer weniger zu sagen hat. Mehr als ein wenig Seelentrost (sprich: Lebenshilfe) in menschlichen Krisensituationen scheint die kirchliche Verkündigung der Gesellschaft nicht mehr zu vermitteln. In unverbindlicher Weise garniert sie Höhe- und Tiefpunkte menschlicher Existenz mit einem religiösen Ritual. Unverständlich und unverstanden aber bleibt, was sie den Menschen zu sagen hat. Sie bleibt der Gesellschaft die Antwort auf die Frage nach Gott – soweit sie überhaupt noch gestellt wird – schuldig. „Oft wird die christliche Botschaft nur wie im verschlossenen Briefumschlag weitergegeben.“ Christsein wird im allgemeinen mit Religiosität bzw. einem Sonderfall von Religion und mit Moral verwechselt, aber kaum mehr als eine törichte und ärgerniserregende Existenzform verstanden, die eben deshalb töricht ist, weil sie sich alles Heil von einem vor zweitausend Jahren als Verbrecher hingerichteten Juden verspricht und die unglaubliche Behauptung wagt, in diesem Menschen habe der unbegreifliche Gott sich selbst der Menschheit mitgeteilt.
Nicht erst die Tatsache des Kreuzestodes macht dabei die Torheit des christlichen Glaubens aus. Vielmehr ist bereits dieser Kreuzestod offenbar die Antwort auf eine für ärgerniserregend empfundene Botschaft. Jesus wurde Opfer menschlicher Willkür und Bosheit, die in seiner Botschaft eine Provokation sah. In der Tat war das, wofür Jesus von Nazaret während seiner Wanderjahre stand, wofür er lebte und starb, so anstößig, so blasphemisch, daß Jesus für viele seiner religiösen Zeitgenossen geradezu unerträglich wurde. Die Botschaft Jesu paßte offensichtlich nicht in das herrschende religiöse Vorverständnis. Sie wurde nicht von diesem Vorverständnis bestätigt. Die Antwort seiner Umwelt auf seine Botschaft und sein Leben war die Hinrichtung am Kreuz. Also nicht erst der Kreuzestod macht die Botschaft Jesu zur Torheit, sondern die Torheit und Unzumutbarkeit seiner Botschaft brachte ihm den Tod ein.
Wer also die Botschaft vom Kreuz möglichst aus der Verkündigung ausblendet, um die Ohren der Gemeinde zu schonen, muß dann auch die Botschaft des vorösterlichen Jesus entschärfen und ihr alles Anstößige zu nehmen suchen. Aber was er verkündet, ist dann nicht mehr die Botschaft Jesu, sondern allgemein religiöses Gedankengut. So wundert es nicht, wenn die pluralistische Religionstheologie unserer Tage das Christusereignis relativiert und Jesus als einen Heilsmittler neben andere stellt. Eine solche Auffassung trifft allenthalben auf offene Ohren, gilt als tolerant und zeitgemäß.
Nicht viel anderes als in der Verkündigung zeigt sich in der Theologie. Theologische Bücher sind zu Ladenhütern geworden. Selbst in ehemals großen theologischen Fachbuchhandlungen muß man einschlägige Literatur oft in der zweiten oder dritten Etage suchen. In den Auslagen lädt sie nicht mehr zum Betreten der betreffenden Geschäfte ein. Dafür boomt der Verkauf esoterischer, allgemein religiöser und den Aberglauben fördernder Schriften. Offenbar hat auch die Theologie der heutigen Gesellschaft nichts mehr zu sagen. Sie bestärkt kaum in der Freude am Glauben, sie provoziert nicht die Gesellschaft in ihren selbstverständlichen Standards und Verhaltensmustern, sie fordert nicht zur kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst heraus, die die Bedingung jeder Umkehr wäre und gibt somit nicht zu denken. Wer hat im Konflikt zwischen Glauben und Unglauben, im Ringen um die Wahrheit noch schlaflose Nächte?
Der Glaube ist kaum mehr lebensprägend
Während der Religionsbegriff im allgemeinen Bewußtsein durchaus positiv besetzt ist, verliert der christliche Glaube mehr und mehr an Ansehen. Er ist ganz einfach für den größten Teil unserer Gesellschaft belanglos geworden. Er scheint uns nichts mehr zuzumuten. Und entsprechend wird seine Verkündigung auch kaum mehr als zukunftsträchtige Verheißung verstanden. Der christliche Glaube ist in unserer Gesellschaft für die meisten Menschen schlicht und einfach nicht mehr lebensprägend. Er bestimmt das tägliche Leben nicht. Er formt kaum mehr die einzelnen zu christlichen Persönlichkeiten. Er ist irrelevant, wenn es um Lebensentscheidungen wie Berufs- und Partnerwahl geht. Es sind ganz andere Faktoren, die dann eine Rolle spielen. Die christliche Botschaft aber, die sich von sich her nicht wie ein Faktor unter vielen, sondern als Gottes letztes und alles entscheidendes Wort über Leben und Geschichte versteht, scheint im Grunde ihre prägende und bestimmende Kraft verbraucht und eingebüßt zu haben.
Und dabei kann noch nicht einmal gesagt werden, daß die Gesellschaft insgesamt areligiöser geworden wäre. Im Gegenteil: Religion ist gefragt. In den verschiedensten Varianten hat sich ein ganzer Markt von religiösen Angeboten aufgetan, der entsprechende religiöse Bedürfnisse zu befriedigen sucht. Offenbar gibt es ein starkes Bedürfnis nach religiöser Erfahrung, die in den Dienst der Selbstvergewisserung und der Daseinsbewältigung angesichts bedrohlicher Kontingenz gestellt wird. Aber solcherart Religiosität sucht sich ihre Gewißheitserfahrung selbst und bleibt so doch mit ihrer Ungewißheit allein. Es bleibt zu fragen, ob sich der christliche Glaube überhaupt in einen derartigen religiösen Horizont integrieren läßt und selbst nur als ein Sonderfall von Religion zu verstehen ist, oder ob er nicht diesen Horizont sprengt. Auf jeden Fall werden Religion und Religiosität in unserer Gesellschaft nicht mehr ohne weiteres mit dem Christentum identifiziert.
Man mag das bedauern und betrauern – ein wirklicher Neubeginn wird aber nicht an einer nüchternen Bestandsaufnahme vorbeikommen. Selbst wenn das Ziel einer christlichen Gesellschaft heute unrealistisch ist, so schulden die Christen der Gesellschaft doch, daß sie ihren Glauben verbindlich und verständlich zur Sprache bringen und von ihm Rechenschaft ablegen (vgl. 1 Petr 3,15), d. h. der Gesellschaft in kritischer Auseinandersetzung verständlich machen, worum es im christlichen Glauben eigentlich geht und welche Konsequenzen es hat, ihn abzulehnen. Auch schulden die Christen einer Gesellschaft, die sich nicht mehr als christlich versteht, daß sie auf deren Vorbehalte gegenüber dem christlichen Glauben eingehen, sich der Kritik stellen, keine Denkverbote verordnen, sich nicht in ein christliches Getto einigeln, sondern Einwände gegen den christlichen Glauben auf deren eigenem Feld diskutieren. Und das ohne die christliche Botschaft mit Gründen, die außerhalb ihrer liegen, plausibel machen zu wollen.
Zwei Irrwege
Es gibt in der Tat innerhalb der Kirche zwei verbreitete grundlegende Fehlformen, den Glauben zu verstehen: Relativismus und Fundamentalismus. Letzterer erhebt seinen exklusivistischen Wahrheitsanspruch, weigert sich aber, ihn zur Diskussion zu stellen, indem er kritische Anfragen nicht zuläßt. Er gleicht somit einer Selbstimmunisierung des Glaubens, weil er darauf verzichtet, den Glauben auch nach außen hin vor dem Forum kritischen Denkens zu verantworten. Unter diesen Umständen aber kann es keine konstruktive Auseinandersetzung und keinen Dialog mit anderen Positionen geben. Fundamentalisten scheinen es dem eigenen Glauben nicht zuzutrauen, daß er sich Einwänden, Kritik und Auseinandersetzung stellt und sich gerade darin bewährt. Deshalb ist Fundamentalismus nur eine Spielart des Unglaubens. Er stellt Glauben und kritisches Denken in einen solchen Gegensatz zueinander, daß man, um gläubig zu sein, auf das Denken verzichten muß. Der Fundamentalismus läßt nur Argumente gelten, die den Glauben scheinbar bestätigen. So dienen ihm z. B. Berichte von angeblich objektivierbaren Erscheinungen und Mirakeln als Bestätigungen des Glaubens, als Fundamentsverstärker, als Stützen des Glaubens außerhalb des Glaubens. Fundamentalisten reagieren ungemein allergisch, wenn man solche Glaubensbestätigungen in Frage stellt. Der Fundamentalismus gleicht dem Versuch, einem Schiff Stützen geben zu wollen, weil man es ihm nicht zutraut, von selbst zu schwimmen. Die Ähnlichkeit mit der im Neuen Testament beschriebenen Wundersucht von zeitgenössischen Juden fällt dabei durchaus ins Auge: „Die Juden fordern Zeichen“ (1 Kor 1,22).
Verbreiteter noch als der Fundamentalismus ist eine relativistische Einstellung zum Glauben. Der Relativismus traut sich nicht, den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens unmißverständlich zur Geltung zu bringen. Es fehlt ihm an Glaubensgewißheit, die allein aus dem Wort Gottes kommt. Im Namen von Toleranz und Pluralismus macht er aus dem christlichen Glauben allenfalls eine private religiöse Überzeugung, die man haben kann, die man aber nicht legitim mit unbedingtem Wahrheitsanspruch vortragen darf. Er relativiert die christliche Wahrheit zu einer möglichen Ausdrucksform religiöser Wahrheit unter anderen. Erkenntnistheoretisch betrachtet, behandelt er die christliche Wahrheit wie eine hypothetische Wahrheit. Man kann sie für wahr halten bis zum Beweis des Gegenteils. Man ist sich seiner Sache nicht wirklich sicher. Man sucht in religiösen Erfahrungen nach Bestätigungen. Positive Erfahrungen mit der Welt und mit den Mitmenschen scheinen den Glauben zu stützen, andere Erfahrungen wie Leid, Einsamkeit, Zerbrechen von Beziehungen scheinen ihm hingegen zu widersprechen. Doch für eine hypothetische Wahrheit kann man nicht sterben. Man müßte sie für bedeutsamer halten als das eigene Leben. Dann aber ist sie nicht mehr hypothetisch.
Beide skizzierte Positionen sind also für Christen eigentlich indiskutabel. Vielleicht haben wir noch nicht die Kunst erlernt, den christlichen Glauben wirklich – wie das Neue Testament es tut – mit unbedingtem Wahrheitsanspruch zur Sprache zu bringen, ohne dabei fundamentalistisch zu werden. Diese Kunst zu erlernen, scheint mir das Gebot der Stunde zu sein. Es handelt sich dabei nicht um einen mittleren Weg, um ein Teils – Teils, sondern um eine Alternative zu beiden.
Heilsgewißheit gründet sich nicht auf Erfahrung
Nun bedeutet diese Kritik an einer weit verbreiteten Praxis keineswegs, daß die Glaubensverkündigung die Erfahrungen der Menschen nicht ernst zu nehmen hätte. Im Gegenteil. Tatsächlich spricht die christliche Botschaft den Menschen auf ihn selbst hin an, d. h. auf seine Erfahrungen hin. Im Evangelium wird der Blinde auf seine Blindheit hin angesprochen (z. B. Mk 10,51) und der Gelähmte auf seine Lähmung (z. B. Mk 2,5), der Taube auf seine Taubheit hin (z. B. Mk 7,34), der Reiche auf seinen Reichtum (z. B. Mk 10,21) und der Sünder auf seine Schuld (z. B. Joh 8,10–11). Aber das Evangelium, insofern es als „Wort Gottes“ verstanden wird, konterkariert diese Erfahrungen. Diese Erfahrungen der Gebrochenheit und Endlichkeit, des Beschädigtseins und des Unheils werden als nicht mehr endgültige Gewißheiten des Menschen qualifiziert. Die so sichere Erfahrungsbasis wird erschüttert.
Das geschieht durch ein Wort, das im Glauben als Gottes Wort verstehbar wird. Daß Gott bei uns ist, wird uns eben „nur“ gesagt. Aus unseren Erfahrungen ist das nicht abzuleiten. Unsere Erfahrung sagt uns vielmehr, daß Gott nicht da ist und wir unserem eigenen Todesschicksal überlassen sind, dem wir aus eigener Kraft nicht entrinnen können.
Die christliche Botschaft spricht die Menschen also sehr wohl auf ihre Erfahrungen hin an: auf die Erfahrung von Freude und Trauer, von Schuld und Unschuld, von Angst und Hoffnung, von Liebe, Glück und Leid, auf die Erfahrung der Vergeblichkeit und des Sterbens. Damit spricht sie den Menschen auf seine Endlichkeit und Vergänglichkeit hin an. Das gilt auch für die positiven Erfahrungen. Denn auch die Erfahrungen von Freude, Glück und Liebe haben ein begrenztes Haltbarkeitsdatum und sind so endlich und vergänglich wie wir selbst. Wo diese Erfahrungen sich einstellen, versuchen wir auch, sie festzuhalten, oft krampfhaft und nicht selten auch auf Kosten anderer. Damit bringen wir uns gerade um die Glückserfahrung. Deshalb spricht die christliche Botschaft uns auch darauf hin an, daß wir versuchen, diese positiven Erfahrungen krampfhaft festzuhalten. Indem die christliche Botschaft uns anspricht, spricht sie uns auf unsere Vergänglichkeit hin an, mit der wir nicht einverstanden sind. Und wer sich von der christlichen Botschaft angesprochen weiß, weiß sich von einem Wort angesprochen, das als Gottes Wort verstehbar ist und nicht als eine unverbindliche Deutung meiner Erfahrungen. Wer sich davon angesprochen weiß und zum Glauben kommt, der kann in seinen Erfahrungen nicht mehr seine letzte Gewißheit finden. Der christliche Glaube mutet ihm zu, seinen Erfahrungen nicht zu trauen. Denn unsere Erfahrung sagt uns, daß wir endlich und vergänglich sind und unserem eigenen Schicksal auf Gedeih und Verderb überlassen bleiben. Auch noch so überwältigende und selbst religiöse Erfahrungen können uns darüber nicht hinwegtäuschen, daß wir endlich sind und unsere Vergänglichkeit unsere letzte Gewißheit ist. Unsere positiven Erfahrungen vermögen die Gewißheit unserer Vergänglichkeit nicht so zu erschüttern, daß sie selbst zur stärkeren Gewißheit werden.
Gottes Wort steht quer zur Erfahrung
Erst die christliche Botschaft kann, wenn sie als Gottes Wort verstanden wird, unsere Erfahrung der Vergänglichkeit erschüttern und relativieren. Sie sagt uns: wenn wir auch vergänglich und scheinbar gottverlassen sind, in Wirklichkeit sind wir von Gott geliebt und haben Anteil an der Liebe des Vaters zum Sohn. Wir sind zur Gotteskindschaft, zur Gemeinschaft mit Gott und also zum ewigen Leben bestimmt.
Das aber wird uns in der christlichen Botschaft mitgeteilt, gesagt. Das ist aus unserer Lebenserfahrung nicht zu erheben und aus der Realität der Welt nicht abzuleiten. Der Glaube an Gemeinschaft mit Gott kann sich also nur auf ein menschliches Wort berufen, das er als Gottes Wort verstehen muß. Im Evangelium begegnet uns diese Struktur z. B. im Gleichnis vom Festmahl (Lk 14,16–24). Zwei Gruppen von Menschen werden hier geschildert. Die zuerst als Gäste Geladenen sagen nacheinander ihr Kommen zum Festmahl ab. Sie berufen sich dafür auf ihre Erfahrung: Sie sind die Glücklichen, die beati possidentes, die auf der Sonnensseite des Leben stehen. Der eine hat Grund und Boden gekauft, der andere hat in neue Produktionsmittel für seinen Betrieb investiert, und der dritte hat geheiratet. Ihnen allen geht es um ihre Zukunftssicherung: durch Besitz, durch Produktivität, durch Fortpflanzung und Erhalt der Sippe. Sie alle verwechseln diese verheißungsvollen positiven Erfahrungen von Fülle und Vitalität mit dem, was nur Gott ihnen schenken kann. Sie lassen sich ihre Erfahrungen nicht relativieren. Ihre Zukunft bauen sie sich selbst mit ihrem Geld, ihrer Arbeit und ihrer Fortpflanzungskraft. Daß sie zu mehr und Größerem bestimmt bzw. geladen sind, leuchtet ihnen nicht ein. Sie definieren sich selbst über ihre Zukunftssicherung. Statt die Einladung in die Basileia Gottes anzunehmen, bauen sie sich ihr eigenes Reich. So bleiben sie bei sich selbst und ihren eigenen Möglichkeiten, die doch vergänglich sind. Heil und Unheil entscheidet sich für sie an der ergangenen Einladung: „Keiner jener Männer, die eingeladen waren, wird mein Abendmahl schmecken“, sagt der Gastgeber am Schluß des Gleichnisses (14,24).
Ganz anders nun die andere Gruppe von Menschen. Nach dem Wille des Gastgebers darf das vorbereitete Fest nicht ausfallen. Die Diener werden auf die Straße geschickt. Die Einladung ergeht jetzt an „die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen.“ (14,21). Es sind diejenigen, denen ihre Vergänglichkeit ständig vor Augen steht und die in der Öffentlichkeit alle, die sie sehen, mit der Vergänglichkeit konfrontieren. Es sind die, die keine Zukunft haben, die augenscheinlich ihrem Schicksal der Gottverlassenheit anheimgegeben sind. Ihnen nun wird gesagt: Ihr seid gar nicht diejenigen, für die ihr euch aufgrund eurer Erfahrung halten müßt und auch haltet. Ihr seid in Wirklichkeit ganz andere. Ihr seid die zur Gemeinschaft mit Gott in seine Basileia Geladenen, deren Bestimmung es ist, im Hause Gottes zu Tisch zu sitzen.
Die Einladung, die an die Menschen ergeht, konterkariert also die Erfahrung. Sie erschüttert die Erfahrungsbasis der Menschen, die sie annehmen und versetzt sie an einen anderen Ort, nämlich in den Festsaal Gottes, wo seine Herrschaft anbricht und gefeiert wird.
Ähnlich ergeht es den Jüngern in der Geschichte vom reichen Fischzug Lk 5,1–11. Die Aufforderung Jesu, am hellichten Tag die Netze auszuwerfen, widerspricht allen Erfahrungen professioneller Fischer. Wenn schon bei Nacht nichts gefangen wurde, dann erst recht nicht bei Tag. Nur „auf sein Wort hin“ tun sie schließlich das, was aller Erfahrung widerspricht. Nur auf sein Wort hin kann geglaubt und aus Glauben gehandelt werden. Nicht unsere Erfahrungen sind das, was zählt, sondern allein sein Wort, das uns zumutet, augenscheinlich Törichtes zu tun.
An Christus glauben kann man nur gegen alle Erfahrung. Denn die Erfahrung sagt uns, daß Gott nicht da ist und daß wir uns selbst überlassen sind. Dann aber ist der Tod unsere letzte Gewißheit, eben unsere Vergänglichkeit und die Erfahrung, daß wir vergehen. Der Glaube an Christus wird durch keine Erfahrung bestätigt. Auch oft gesuchte religiöse Erfahrung kann uns keine wirkliche gegenteilige Gewißheit geben. Es ist nicht zu bestreiten, daß es religiöse Erfahrung gibt. Sie wird jedoch falsch gedeutet, wenn sie für Gotteserfahrung gehalten wird. Wohl erfahren wir darin unsere Geschöpflichkeit. Diese aber ist gerade nicht Gott und nicht von göttlicher, sondern eben von geschöpflicher Qualität. Zwischen geschöpflicher und nicht-geschöpflicher Qualität gibt es eine absolute ontologische Differenz, die durch keine menschliche Erfahrung oder religiöse Leistung zu überbrücken ist. Auch in der religiösen Erfahrung wird mithin geschöpfliche Wirklichkeit erfahren und keineswegs Gott selbst.
Daß Gott bei uns ist und wir in Wirklichkeit Gemeinschaft mit Gott haben, wird uns mitgeteilt. Deshalb insistiert die christliche Botschaft so unerbittlich auf dem Wort. Kein christlicher Gottesdienst ohne Wortverkündigung. Kein Sakrament kommt zustande ohne Wort. Ohne Wort ist nichts auszumachen über Gottes Liebe zum Menschen. Ohne Wort bleibt alle religiöse Interpretation der Wirklichkeit eine Illusion. Wo Gott nicht „zur Sprache“ „kommt“, ist er auch nicht präsent.
Christliche Glaubensgewißheit findet also keine Bestätigung in der Erfahrung. Sie hat keine Plausibilitätsbasis in unseren Lebenserfahrungen. Sie gründet einzig und allein in einem mitmenschlichen Wort, das einen Menschen so ansprechen kann, daß dieser daraus die Zusage Gottes vernimmt. In der Tat, die christliche Botschaft hat ihr Korrelat nicht in der Erfahrung, obwohl sie den Menschen auch auf dessen Erfahrung hin anspricht. Sie hat ihr Korrelat vielmehr im Glauben. Das Wort weckt Glauben und kann auch nur im Glauben als Gottes Wort verstanden werden. Es teilt dem aufnahmenbereiten Hörer etwas mit, das nur Gott sagen kann: daß wir Gemeinschaft mit Gott haben.
Der Wortcharakter der christlichen Botschaft
Der christliche Glaube beruft sich auf ein Wort, das eine ganz und gar unbegreifliche Mitteilung macht. Es teilt Gemeinschaft mit Gott mit. Soll diese Botschaft wahr sein, dann muß sie als Gottes Wort verstanden werden. Wer sich der christlichen Botschaft anvertraut, vertraut sich folgerichtig einem Wort an. Das ist in den Augen anderer die eigentliche Torheit des Glaubens. Der Christ hat mehr Vertrauen zu diesem schlichten Wort als zu den Erfahrungen, die er im Leben macht. Der Christ bekennt, daß ihn ein Wort trägt und nicht seine Lebenserfahrung, auch nicht seine auf religiöser Erfahrung beruhenden Sinn- und Lebensdeutungen. Mitunter wird dieses „Sich-getragen-Wissen“ vielleicht auch nur ein Sich-Halten oder gar ein Sich-Klammern an dieses Wort sein. Denn tatsächlich haben wir nichts anderes als diesen Logos (vgl. Joh 1). Unsere Glaubensgewißheit gründet buchstäblich in nichts anderem als in diesem Wort, das – so bekennt der Glaube – Gott uns gegeben hat.
Das wird besonders in existentiell bedrohlichen Situationen überaus deutlich. Angesichts des Todes gibt es nichts, woran wir irgendeine den Tod relativierende Hoffnung festmachen könnten. Es gibt nichts, worauf wir eine Hoffnung vernünftigerweise gründen könnten. Unsere Erfahrung sagt uns, daß wir vergehen. Und angesichts des Todes anderer sagt uns die Erfahrung, daß sie vergangen sind. Es ist tatsächlich nicht falsch, zu sagen: „Was tot ist, ist tot.“ Abgesehen vom christlichen Glauben ist das die einzig mögliche vernünftige Feststellung. Auf nichts Verläßliches läßt sich eine gegenteilige Behauptung gründen. An der Welt ist Gottes Liebe und Heilswille eben nicht auszumachen. Und ohne das Wort Gottes ist eben nicht zu sehen, wie wir der Gottferne jemals entrinnen könnten. Wo wir unsere Erfahrung zum Grund des Glaubens machen, da betrügen wir uns letztlich selbst. Denn alle Erfahrung und alle innerweltlichen Gründe sind genauso vergänglich und geschöpflich wie wir selbst.
In der Tat ist die Neuzeit von dieser sich zur Gewißheit verdichtenden Erfahrung geprägt, daß Gott „tot“ ist. Die selbstverständliche Gottesgewißheit des Mittelalters ist unwiederbringlich dahin. Die in der Aufklärung für autonom erklärte Vernunft bedeutet wohl auch, daß die Welt sich loskettet und sich als ihrem eigenen Schicksal überlassen begreift. Der Wahrheitskern von Friedrich Nietzsches Für-tot-Erklärung Gottes besteht gerade in der Erfahrung der Abwesenheit Gottes. Selbst Religiosität erklärt sich auch aus dieser Erfahrung. Sie möchte sich Gottes vergewissern, weil sie ihn nicht erfährt. Ähnlich wie ein Kind, das laufen lernt und sich auf einem Spaziergang von den Eltern losreißt, ihnen vorauseilt, aber nach wenigen Schritten sich ängstlich umschaut, ob sie noch da sind.
Die Moderne hat immer mehr verstanden, daß die Welt und die Geschichte sich selbst überlassen ist. Menschheitskatastrophen wie Auschwitz oder in Ruanda haben uns darin bestärkt. Es wäre zynisch, wollte man eigene gemachte gute Erfahrungen dagegen aufrechnen und zum Anlaß nehmen, an eine Güte Gottes zu glauben. Gottes Liebe zu Welt ist an der Welt nicht abzulesen. Sie muß im Wort zur Welt dazugesagt werden.
Dieses Wort nun stellt in die Entscheidung: Wem wollen wir unser Vertrauen schenken, wem wollen wir glauben? Entweder unserer Erfahrung, die uns sagt, daß Gott gar nicht da ist, oder diesem Wort, das uns sagt, daß wir in dieser unserer Vergänglichkeit von Gott unendlich geliebt sind, und zwar mit derselben Liebe, mit der Gott seinem Sohn zugewandt ist.
Eben darin besteht die eigentliche Zumutung und die Torheit des christlichen Glaubens. Erfahrung scheint normalerweise der stärkste Grund zu sein, auf den der Mensch sich gründen kann. Erfahrung wird stets als Argument gebraucht, um Einstellung und Praxis zu begründen. Erfahrung schenkt Selbstgewißheit. Erfahrung ist das, was gesucht wird. Sei es berufliche Erfahrung als Kompetenzausweis, sei es Erfahrung als Erleben und als Selbstvergewisserung in den verschiedensten Lebenssituationen, sei es religiöse Erfahrung als Wahrnehmung eines umfassenden Sinnhorizonts. So wie die Griechen Weisheit suchten, so suchen wir nach (religiöser) Erfahrung.
Die christliche Glaubensverkündigung aber mutet uns zu, unseren Erfahrungen vor Gott nicht zu trauen, sondern einem menschlichen Wort alles Vertrauen zu schenken, das wir als Gottes Wort verstehen können. Sie setzt ein Wort gegen die Erfahrung der Abwesenheit Gottes. Mehr nicht. Sie setzt eben nicht eine religiöse Erfahrung oder eine religiöse Weltdeutung dagegen, sondern ein schlichtes Wort.
Die Vollmacht des Wortes
Das Wort Jesu machte sich offensichtlich selbst als Gottes Wort verständlich. Es war solcherart, daß man, wenn man es für gewißmachend und wahr hält, als Gottes Wort verstehen muß. Sonst könnte und dürfte man sich darauf nicht mehr verlassen als auf die eigene Erfahrung. Dieses Wort wird im Evangelium als solcherart beschrieben, daß es „mit Vollmacht“ (exousía) gesagt wurde und nicht so wie aus dem Mund der Schriftgelehrten (vgl. Mk 1,22.27; Mt 7,29; Lk 4,32). Paulus qualifiziert das „Wort des Kreuzes“ als „Gottes Kraft“ für die, die gerettet werden. Offenbar wußten sich die Hörer darin von Gott selbst angesprochen. Es ist ein Wort, das die „Macht“ und die „Kraft“ hat zu „retten“, indem es die eigenen selbstgemachten Gewißheiten und die eigenen Erfahrungen und das mitgebrachte Vorverständnis in die Krise führt und aus Adam einen neuen Menschen macht mit einer neuen Gewißheit über sich selbst. Ja, es hat die Macht, alle, die es annehmen, zu Kindern Gottes zu machen (vgl. Joh 1,12). Jesus brachte Gott in einer Weise zur Sprache, daß er sich für den Hörer, der für dieses Wort offen war, geradezu ereignete. Indem Gott im Munde Jesu zur Sprache kommt, kommt Gott im Herzen des Glaubenden an. Gemeinschaft mit Gott geschieht im gläubigen Annehmen der Botschaft Jesu. Offenbar verstanden sich seine Hörer durch sein Wort als von Gott selbst angesprochen. Ohne dieses Wort kann man aus unserer todverfallenen Existenz nicht gerettet werden.
Umgekehrt machte Jesus auch die Erfahrung, daß Menschen sein Wort ablehnten, dies aber nur mit fadenscheinigen Gründen tun konnten. Sie entzogen sich seiner Botschaft willkürlich (vgl. Mk 3,6). In Nazaret (vgl. Mk 6,1–6) konnte Jesus keine Wunder tun, weil seinem Wort kein Glaube entgegengebracht wurde. Statt dessen führten die Menschen die Erfahrungen, die sie mit Jesus und seiner Familie gemacht hatten, gegen sein Wort ins Feld. Dann aber konnte Gott sich in ihnen nicht ereignen. Sie blieben mit ihren Erfahrungen bei sich selbst und damit sich selbst überlassen. Begegnung mit Gott konnte nicht stattfinden. Unsere Erfahrungen sprechen eigentlich immer gegen die Gegenwart Gottes und die Gemeinschaft mit ihm. Gerade der Besuch Jesu in Nazaret macht deutlich, daß seine Botschaft nur mit Glauben, nicht mit Erfahrung korreliert.
Daß Jesus sein Wort „mit Vollmacht“ vorträgt, bedeutet auch, daß er es tatsächlich als Gottes Wort verständlich macht. Es ist nicht Meinung, es ist nicht Lebensklugheit oder Moral, es gleicht nicht der letztlich nichtssagenden Rede der Schriftgelehrten, die eine Menge wissen und doch nicht Gott zur Sprache bringen. Auch handelt es sich nicht um psychologisches oder sozialpädagogisches Knowhow. Es handelt sich nicht um eine Wahrheit, auf die wir auch selber aufgrund von Beobachtung und Erfahrung oder Nachdenken kommen könnten. Es ist nicht das verwässerte religiöse Gerede vom Sinn des Lebens, von unseren religiösen Erfahrungen und den angeblichen Plausibilitätsgründen in unserer Existenz, von der angeblichen Lebenshilfe durch Glauben und seinem therapeutischen Gebrauchswert, das von so vielen unserer Kanzeln Sonntag für Sonntag bis zum Überdruß zu vernehmen ist. Jesu Wort machte sich verständlich als Gottes Wort und damit als die Wahrheit und letzte Gewißheit über den Menschen und über die Geschichte.
Den Hörer in die Entscheidung führen
Gegenüber der Verkündigung Jesu konnte man also nicht unbetroffen und neutral bleiben. Tatsächlich „entsetzten sich“ seine Zuhörer (Mk 1,22). Offenbar mußte man Stellung beziehen. Es war anders als beim Hören einer Durchschnittspredigt in unserer Zeit. Der Hörer hat in der Regel nicht den Eindruck, daß an seiner Zustimmung oder Ablehnung sich Heil und Unheil, Tod und Leben entscheiden.
Wenn die christliche Verkündigung in unserer Kirche wieder an Profil gewinnen soll, dann wird es notwendig sein, weniger defensiv vorzugehen. Wir dienen weder dem Glauben noch seinen Adressaten, wenn wir ihn bis zur Unkenntlichkeit seiner Anstößigkeit berauben. Die christliche Botschaft mutet uns nun einmal zu, ihr mehr zu trauen als unseren Erfahrungen und unserem Vorverständnis, das oft daran hindert, die Botschaft zu verstehen. Denn neuer Wein gehört in neue Schläuche! Die christliche Botschaft paßt nicht in das alte religiöse Vorverständnis. Die sog. johanneischen Mißverständnisse im Johannesevangelium illustrieren geradezu diesen Sachverhalt. Jesu Verkündigung wird regelmäßig falsch verstanden, weil sie mit einem Vorverständnis gehört wird, das nicht zu ihr paßt (vgl. z. B. Joh 2,10; 3,4–10; 4,11–15; 6,52). Jesu Botschaft ist eben nicht plausibel zu machen. Sie ist als Wahrheit Gottes anzunehmen – gegen alle vermeintlichen Gewißheiten und gegen alle Ungewißheiten.
Dazu wird es freilich nötig sein, unseren Glauben konfrontativer zur Sprache zu bringen. Der Hörer soll mit einer geradezu unglaublichen Botschaft konfrontiert werden. Keinesfalls mit etwas, das eigentlich fast selbstverständlich ist. Und zugleich muß er auch mit sich selbst und mit seiner eigenen Unwahrheit, seinen Illusionen und selbstgemachten Gewißheiten, die auf tönernen Füßen stehen konfrontiert werden. Deshalb hat Katechese in ihren verschiedenen Formen und Methoden heute weithin Arbeit am religiösen Vorverständnis zu sein. Dieses ist in die Krise zu führen!
Der Hörer der christlichen Verkündigung ist also in die Entscheidung zu führen. Ihm selbst muß transparent werden, welche Tragweite sein Verhalten gegenüber der christlichen Wahrheit hat und was von Annahme oder Ablehnung des Glaubens an Christus tatsächlich abhängt: Heil und Unheil. Denn entweder lehnt der Hörer die Botschaft Jesu definitiv ab mit der Konsequenz, daß er dann – aus seiner Perspektive jedenfalls – der Gottferne in alle Ewigkeit nicht entrinnen kann. Hier hat die neutestamentliche Gerichtsdrohung wohl ihre Berechtigung, auch wenn der Glaubende zu Recht Hoffnung auch für die Nichtglaubenden haben darf. Der Nichtglaubende kann aber diese Hoffnung mit dem Glaubenden nicht teilen. Es ist tatsächlich aus der Perspektive des Unglaubens nicht zu erkennen, daß man nicht sich selbst und damit seinem Todesschicksal als letzter Gewißheit preisgegeben ist. Oder er läßt sich im Glauben mit der Gotteskindschaft und mit der Perspektive ewigen Lebens beschenken. Es ist die Entscheidungssituation, die Joh 6,60–69 sichtbar wird. Petrus versteht schließlich, daß es nicht möglich ist, sich von Jesus zu trennen, ohne die Hoffnung auf ewiges Leben damit zu begraben (6,68).
Christliche Glaubensverkündigung hat den Menschen nichts anderes mitzuteilen und zu erschließen, als daß wir Gemeinschaft mit Gott haben und deshalb nicht uns selbst und unserem Todesschicksal preisgegeben sind. Das geschieht im Wort. Der Glaube kann sich nur auf ein Wort berufen, von dem er erkannt hat, daß es – soll es wahr sein – Gottes Wort ist. Das Wort, das Gott uns gegeben hat, ist Jesus. In ihm ist es als menschliches Wort laut und vernehmbar geworden. Und in diesem menschlichen Wort begegnet uns der unbegreifliche Gott. Gott selbst begegnet als Mensch. Das ist genauso unbegreiflich wie Gott selbst.
Die Kirche ist das Geschehen der Weitergabe dieses Wortes. Nur wo dieses Wort weitergegeben wird, ist auch Kirche: Gemeinschaft derer, die sich in Gemeinschaft mit Gott wissen, weil sie teilhaben an der Gemeinschaft, die der Sohn mit dem Vater hat und die der Heilige Geist ist. Die Kirche wird nur Kirche bleiben, wenn sie dieses Wort in seiner ganzen Anstößigkeit und Unzumutbarkeit den Menschen zumutet. Denn daß dieser Glaube heilsam ist, kann man vor seiner Annahme nicht erkennen. Das erschließt sich erst dem, der sich auf diese Zumutung eingelassen hat.