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Konsum-Perspektiven

Theologische Anmerkungen zu einem zentralen Thema Vortrag zur Eröffnung der KONSUMENTA in Kiel am 14.7.2001 Prof. Dr. Gerhard Gäde, Rom

I. KUNST, THEOLOGIE UND KONSUM

Als Angehöriger eines anderen "Kulturkreises" freue ich mich, hier bei der Eröffnung der KONSUMENTA auch etwas sagen zu dürfen. Das ist nicht selbstverständlich. Denn Kunst und Theologie - was verbindet sie eigentlich noch? Sind sie nicht einander fremd geworden?

Ich sage bewußt "geworden". Denn es war durchaus nicht immer so. Jahrhunderte lang gingen Kunst und Theologie zusammen. Die eine visualisierte, was die andere sagte und auf den Begriff brachte. Vielleicht war Kunst nur eine andere Art, Theologie zu treiben, also von Gott zu sprechen. Kunst war in erster Linie sakral.

Das hat sich seit der Neuzeit gründlich geändert. Mit dem autonomen Subjekt emanzipierte sich auch die Kunst als menschliche Lebensäußerung aus dem Schoß der Kirche und aus der Geborgenheit des Glaubens. Kunst wurde profan.

Doch beide Weisen der Kunst stellen Wirklichkeit dar: wirkliche Wirklichkeit oder geträumte Wirklichkeit. Aus unterschiedlichen Perspektiven deckt sie Aspekte der Realität auf, entbirgt sie den Blick des Künstlers, läßt sie sehen, was man ohne sie nicht sieht: realistisch, expressionistisch, abstrakt, surrealistisch - vielleicht auch unrealistisch. Wer weiß? In der bildenden Kunst, zu der auch die Architektur gehört, zeigt sich die Welt, in der wir zuhause sind.

Die sakrale Kunst verrät etwas davon, wo sich der Mensch des Mittelalters zuhause wußte oder wohin er sich sehnte: in Gott zu wohnen. Diese Kunst vermittelte eine Perspektive der Ewigkeit.

Profane Kunst hat vielleicht nicht weniger Sehnsucht nach Leben und Ewigkeit. Und doch stellt sie die Wirklichkeit ganz anders dar. Aus einer Perspektive der Endlichkeit. Die Gottesgewißheit ist dahin.

Diese Kunstausstellung nimmt Konsum und Konsumverhalten unter die Lupe: Konsumenta. Dieses Gebäude war einmal ein Kaufhaus. In ihm wurde verkauft und gekauft. Konsumbedürfnisse wurde befriedigt. Die Ausstellung erinnert an das, was war: Konsum im Zentrum der Stadt. Wo ist er geblieben? Er scheint ausgewandert zu sein an die Peripherie. Ergeht es dem Kaufhaus wie den Kirchen einer Stadt, die eine nach der anderen pleite machen und sich nur noch auf dem Lande halten? Wie holen wir die Kaufhäuser zurück?

Vielleicht werden die Stadtzentren in Zukunft zur musealen Peripherie und die Stadtränder mit ihren Megamärkten zu neuen Mittelpunkten. Denn die Kauflust ist ungebrochen. Die Konsumgesellschaft scheint ihren Sinn im Konsumieren endgültig gefunden zu haben. Gibt es nicht Parallelen zwischen Konsum und Sucht? Was macht der Süchtige den ganzen Tag? Er beschafft neuen Stoff. Hat eine Konsumgesellschaft andere Sorgen als Stoffbeschaffung? Und hat sie andere Ängste als Knappheitsängste?

Es sind die Ängste, die man nicht zu haben braucht, wenn man mit einer Perspektive der Ewigkeit durchs Leben geht. Aber die hat eine Konsumgesellschaft nicht. Deshalb versucht sie, ihre Perspektive der Endlichkeit wenn auch nicht in eine der Ewigkeit, so doch in eine der Unendlichkeit zu verwandeln. Es möge immer so weitergehen: mit dem Produzieren und Konsumieren, mit dem Kaufen und Verkaufen, mit dem Vernaschen der Welt. Die Postmoderne perpetuiert gewissermaßen den status quo. Die Moderne wachte auf aus dem Wahn der Unendlichkeit. Ihr wurde bewußt: Irgendwann ist alles alle. Die Postmoderne, ist sie nicht auch der Versuch, dieses Erwachen als bösen Alptraum zu vergessen und den Traum von der Unendlichkeit weiterzuträumen und so den Traum mit der Wirklichkeit zu verwechseln? Man weiß ohnehin nicht mehr so recht, was denn nun wirklich wirklich ist: das Leben oder unsere Bilder davon?

Aus theologischer Sicht kann man formulieren: Es stimmt: der Mensch nach dem Tode Gottes hat mit Erschrecken festgestellt, daß die Welt zu klein für seinen Magen ist und sein Magen zu groß für die Welt. Losgekettet von Gott bleibt er nun angewiesen auf dieses Stückchen Erde und verspricht sich davon den Himmel. Kann Glaube denn je größer sein? Aber es ist wohl kaum der Glaube der Witwe von Sarepta im AT, deren Mehltopf nicht leer und deren Ölkrug nicht trocken wurde (vgl. 1 Kön 17, 8-24). Denn Glaube hat es mit Zukunft zu tun und mit Vertrauen auf den Gott der Zukunft. In der Konsumgesellschaft aber glaubt man wohl kaum mehr an die Zukunft. Man frißt sie jetzt schon auf in dem Wahn, das Heute möge nicht vergehen. Denn ein Morgen scheint unausdenkbar.

Der Ort, wo sich dieser Konsum ereignet, ist der Markt. Der Markt ist die globalisierte, m. a. W. die katholische, weltweite Institution des Konsums. Jeder Supermarkt, jedes Kaufhaus stellt das Ganze im Fragment dar mit seinem ritualisierten Shopping. Die Stoffbeschaffung wird zum kultischen Erlebnis. Selbstvergewisserung ereignet sich durch Kaufen. Dasein wird bewältigt. Konsum wird zum Sein. Dahinter stehen die Gesetze des Marktes, die sich selbst regulieren, die offenbar nicht von Menschenhand gemacht sind, auch nicht vom Bundestag. Während der Respekt vor den Gesetzen des Staates mehr und mehr schwindet, wächst die Ehrfurcht vor den Gesetzen des Marktes. Sie werden zu Mächten, die über uns walten: die Konjunktur, der Dollarkurs, der Nasdaq. Wir hoffen, daß sie uns gnädig sind. Metaphysik des Marktes, Ontologie des Konsums. Und was ist mit denen, für die nichts übrigbleibt? Mit den Hungrigen? Nun, wir sind nicht die Herren über die Gesetze des Marktes. Wir können ja auch das Wetter nicht ändern. Und nichts leichter, als die Hungergestalten zu übersehen. Es sei denn, wir hießen Benetton. Aber damit haben wir nichts zu schaffen. Die im Dunkeln sieht man nicht, basta! Extra mercatum nulla salus! So ist das nun mal. Ohne Dogma läuft auch am Markt nichts. Wer schreibt die erste Theodizee des Marktes?

In der Tat: Der Markt scheint so etwas wie ein neuer Gott zu werden. Man kann es auch anders sagen: zur neuen Totalität. Nur scheinbar sind wir den Totalitäten entronnen. Die Kirche war totalitär. Dann folgte der Staat. Das letzte Jahrhundert hat in erschreckender Weise gezeigt, wohin die Vergötzung des Staates führt und wohin die Ideologien führen, die sich als alles bestimmend verstehen, die sich des Menschen bemächtigen. Noch immer geben wir acht darauf, daß solches sich nicht wiederholt. Wir starren wie der Fuchs im Loch auf Jörg Haider. Aber so wiederholt es sich nicht. Vielleicht verschlafen wir und merken erst zu spät, daß es der Markt mit seinen Verheißungen ist, der sich des Menschen bemächtigt und ihn wiederum zum Spielball eines Systems macht. Wohin die Richtung geht, kündigt sich schon an in der aktuellen bioethischen Diskussion. Es wird nicht mehr das Sittengesetz sein, das hier Klarheit schafft, auch die Gesetze des Staates werden am Ende nicht entscheidend sein, sondern die Gesetze des Marktes diktieren, wo es lang geht: auch Gesundheit wird zum produzierbaren Konsumgut und dem heiligen Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfen. Gesundheit aber ist nur herstellbar und konsumierbar, wenn der Mensch selbst als Rohstoff verfügbar und konsumierbar wird. Neue Formen des Kannibalismus? Entschuldigen Sie, das ist nur eine Frage.

Der Markt im engeren Sinne, nämlich als ökonomischer Tauschplatz, ist insofern theologisch interessant, als er ein Phänomen ist, das - je mächtiger es wird und das Leben der Menschen bestimmt - dazu neigt, den Menschen wieder zu versklaven und ihm das Bewußtsein seiner Würde als Kind Gottes wieder zu nehmen. Nur unter dieser Rücksicht möchte ich das Phänomen Markt betrachten. Es geht um das Menschenbild, das mit ihm verbunden ist und um das Gottesbild, das er vermittelt. Immer wieder haben sich Menschen und von Menschen geschaffene Strukturen, Ideologien und Systeme über die Menschen gesetzt, sie versklavt, instrumentalisiert, ausgegrenzt. Immer wieder haben sich solche Systeme an Gottes Stelle gesetzt: also Glück verheißen und Unheil angedroht, Leben gegeben und Leben zerstört. Es wäre deshalb geradezu naiv, zu meinen, ein so mit dem täglichen Leben der Menschen verwobenes Phänomen wie der Markt, ein so auch mit der Begierde des Menschen verbundenes Phänomen, das so viele in seinen Bann zieht, sei immun dagegen, vergötzt und angebetet zu werden und am Ende die Menschen zu versklaven.

Im NT gibt Jesus selbst das Kriterium dafür an, wie alles Mächtige im Glauben zu betrachten ist. Als er gefragt wird, ob es für Juden erlaubt sei, dem Kaiser in Rom Steuer zu zahlen, geht es ja genau um dieses Problem (vgl. 22,15-21). Da der römische Kaiser wie ein Gott verehrt, also vergötzt wurde, erschien streng gläubigen Juden die Steuerzahlung wie eine Mitwirkung am Götzendienst. Jesus antwortet auf die brisante Frage: "Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und gebt Gott, was Gott gehört" (Mt 22,21). Damit entthront Jesus gewissermaßen den Kaiser, er relativiert ihn. Die Münze, auf der das Abbild des Kaisers zu sehen ist, gehört diesem. Aber der Mensch, auf dem Gottes Abbild zu sehen ist, gehört nicht dem Kaiser. Der Mensch gehört Gott. Keine Macht der Welt hat Anspruch auf den Menschen. Die Forderungen des Kaisers sind höchstens mit Geld zu bezahlen, aber nicht mit Menschenleben, mit Menschenopfern, mit Menschenschicksalen. Die christliche Botschaft sprengt also immer wieder alle geschlossenen Systeme auf, in denen der Mensch sich verfangen kann. Sie reißt den Horizont auf: nicht der Kaiser ist euer Herr, nicht sein mächtiges Imperium ist schon das Reich Gottes, nicht die Welt ist der Lebens- und Sterbehorizont der Menschen. Die Menschen sind vielmehr für das je Größere, für den immer größeren Gott geschaffen. Alles andere ist zu eng für den Menschen, sperrt ihn ein, macht ihn unfrei. Und eben darum geht es mir hier: auch die Wirtschaft, gerade die Wirtschaft, der Markt kann alles Leben und Denken der Menschen dermaßen bestimmen, daß der Mensch zum Gefangenen seiner Marktgesetze wird, daß er sich ein Gesetz auferlegt, an dem er sein Leben individuell und gesellschaftlich orientiert. In der Theologie sprechen wir in diesem Zusammenhang vom Menschen als homo oeconomicus. Was ist das? Das ist der Mensch, der sich nur noch als ökonomisches Wesen begreift, der nur noch Wünsche hat, die man mit Geld erfüllen kann, dessen Hoffnungsbilder und Zukunftsvisionen von der Werbung gezeichnet werden, der sich für sein Leben nichts anderes ausmalt, als was man in den Auslagen und Schaufenstern der Supermärkte und in den Katalogen der Versandhäuser anschauen kann. Der sich ein Ersatzteillager für sich selbst wünscht, um das Heute zu perpetuieren. Denn er hat keine Hoffnung auf eine Zukunft jenseits seiner selbst. Deshalb muß er zu einer Art H-Milch werden. Es ist der Mensch, der sich seine Bedürfnisse vom Markt erfinden läßt und dem der Markt in der Befriedigung dieser Wünsche Glück und Leben verheißt.

II. DIE BEHERRSCHENDE STELLUNG DER KAPITALISTISCHEN MARKTWIRTSCHAFT NACH 1989


Das Jahr 1989 markiert einen weltpolitisch bedeutsamen Einschnitt in die Geschichte der Menschheit. Es ist das Jahr der "Wende".

Mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft bricht aber nicht nur ein politisches Herrschaftssystem zusammen, sondern auch das mit diesem verknüpften Wirtschaftssystem, das auf der marxistischen Gesellschaftsanalyse des historischen Materialismus aufbaut. Das Scheitern dieses mithilfe staatlicher Planung funktionierenden Wirtschaftssystems bedeutet scheinbar den Sieg der westlichen kapitalistischen Marktwirtschaft.

Die Überzeugungskraft dieses Wirtschaftssystems ist offenbar so groß, daß es weitgehend auch von China übernommen wird, obwohl es politisch am Kommunismus festhält. Der westliche marktwirtschaftlich orientierte Kapitalismus hat sich so in wenigen Jahren fast über die ganze Welt ausgebreitet. Er bestimmt das wirtschaftliche Denken in fast allen Ländern der Erde. Und es gibt zu ihm keine real existierende Alternative mehr. Dieses System muß nicht das tun, was sein eigenes Wesen und Funktionieren eigentlich ausmacht: es muß nicht mit anderen konkurrieren!

Das kapitalistische Wirtschaftssystem steht unangefochten da. Es ist die Weise, wie die Welt wirtschaftlich, also im Austausch von Waren und Dienstleistungen, existiert. Es vernetzt die nationalen und kontinentalen Märkte miteinander. Es überzeugt die Politik von seiner Richtigkeit. Diese schafft die politischen Voraussetzungen für diese Vernetzung. Globalisierung nennt man das. Die ganze Welt wird zum Binnenmarkt, zum Weltdorf, zu einem einzigen Handelsplatz ohne Rücksicht auf geschichtliche gewachsene Strukturen, auf kulturelle Eigenheiten der Völker, auf geographische Besonderheiten. Da dieses Wirtschaftssystem keine Konkurrenten zu fürchten hat, muß es sich nicht mehr als das effektivere und zugleich humanere System profilieren. Es kann der ihm innewohnenden Dynamik freien Lauf lassen und sich ungehindert als alles Leben beherrschende Macht etablieren. An einigen wenigen Punkten aus unserem eigenen Erfahrungsbereich soll das im folgenden verdeutlicht werden.

III. DIE BEHERRSCHUNG VON IMMER MEHR LEBENSBEREICHEN DURCH DEN MARKT


Die zeitliche Dimension

Menschliches Leben spielt sich in Zeit und Raum ab. Der Markt erobert nicht nur Räume, Wirtschaftsräume. Er beansprucht auch immer mehr Zeit. Die neuen Ladenschlußzeiten sind ein Beispiel dafür. Unter dem Vorwand, das Leben bequemer zu machen, sind neue Ladenschlußzeiten durchgesetzt worden. Angestrebt aber werden - analog zum Rund-um-die-Welt-Markt - die Rund-um-die-Uhr-Zeiten. Es soll möglichst keine marktfreie Zeit mehr geben. Auch der Sonntag soll zur Disposition gestellt werden. Die Effektivität des Marktes verlangt es so. Seine Dynamik kennt keine Grenzen. Die damit verbundenen Glücksverheißungen machen diese Forderungen plausibel. Mit Home-Banking hat man ständig Zugriff auf sein Bankkonto. Das alles ist bequem, erspart Wege und Wartezeiten, sicher. Aber zugleich dehnt sich der Markt überall hin aus. Ich bin immer und überall auf dem Basar. Mir entgeht nichts. Keine Gelegenheit zu einem Schnäppchen rund um die Uhr und rund um den Erdball soll vertan werden. Mit Computer und Handy kann ich überall und jederzeit mit im Geschäft sein, egal ob ich gerade am Strand, im Auto, auf Klo bin, ob ich gerade mit meinen Kindern spiele, beim Bergsteigen bin oder mit meiner Frau im Bett liege. Ich bin nicht nur selbst erreichbar. Ich kann auch jederzeit alle Welt in Bewegung setzen, um mir einen Wunsch zu erfüllen, ein Geschäft abzuschließen. Ich bin wer, ich habe Macht, ich bewege etwas.

Die Werbung im Fernsehen unterbricht die Freizeit, beansprucht die Aufmerksamkeit für den Markt und seine Neuheiten auch dann und in immer größerem Maße. Die privaten Medien kennen keine werbefreien Zeiten mehr. Börsennachrichten auf allen Kanälen. Rund um die Uhr ist der Mensch dem Marktgeschrei ausgesetzt, ist sein Geld Objekt der Begierde, ist er selbst indoktrinierbares Freiwild. Die Medien machen es möglich: der Mensch soll dem Basar nicht mehr entfliehen.

Nur totalitäre Regime beanspruchen sonst soviel Medienzeit, um sich den Bürgern zu präsentieren und sie von ihrer Politik zu überzeugen.

Die menschliche Dimension

Auch der Mensch wird zur Ware. Das Heer von Arbeitslosen bringt es mit sich, daß der einzelne sich auf dem "Arbeitsmarkt" verkaufen muß. Es geht nicht mehr um das Subjekt, um seine Anlagen und Fähigkeiten, sondern nur noch um das, was der Markt braucht. Der einzelne wird so zum Verkäufer und zur Ware zugleich. Der Markt bestimmt, wer gebraucht wird und wer rausfliegt. Durch knapper werdende Arbeit sinkt der Mensch und seine Arbeitskraft im Wert. Er muß sich unter Preis verkaufen. Er wird zur Aktie, zum Spielball jener Kräfte, jener Gesetzmäßigkeiten, nach denen der Markt funktioniert.

Zudem: der einzelne ist nur interessant, weil er potentieller Käufer ist. Wer kein Geld hat, zählt nicht. Das ist halt so auf einem Markt. Aber wenn die ganze Welt zum Markt wird, zum Tausch- und Handelsplatz, wenn das Marktdenken alles Leben beherrscht, was ist dann mit den vielen, mit den Massen, die kein Geld, die keine Arbeit haben? Sie kommen auf dem Markt gar nicht vor. Sie sind ausgeblendet, werden nicht wahrgenommen. Es ist so, als gäbe es sie gar nicht.

Die soziale Dimension

Trotz expandierenden Marktes stoßen wir allerorten auf Sozialabbau. Eine sog. neue Armut ist auch in unserem Land nicht zu übersehen. Man spricht von der Zwei-Drittel-Gesellschaft. Es gibt immer mehr Arme, immer mehr Obdachlose, immer mehr Gescheiterte. Und damit immer mehr Menschen, die vom Markt ausgeschlossen sind. Und damit auch vom Leben. Denn der Markt ist ja das Leben.

Weitere Beispiele

Immer mehr kategoriale Lebensbereiche werden vom Markt erobert und regelrecht vermarktet. Die Skandale der letzten Jahre in der Landwirtschaft haben an den Tag gebracht, wie die Tiere nur noch als Objekte der Ausbeutung, als Ware gesehen werden. BSE, die brutale Praxis der Viehhaltung und -transporte zeigen, wie groß und hemmungslos die Gier ist und wie der Markt schließlich alles Leben beherrscht, gesundheitliche Gefahren verharmlost und regelrecht in Kauf nimmt.

Nicht zu vergessen ist der Sport als ein voll und ganz vermarkteter Bereich. Nicht nur die Sportveranstaltungen, auch die Spieler und Akteure sind zu Waren geworden, zu idolisierten Waren, zu Fetischen des Konsums.

Auch der ganze Bereich der Erotik und Sexualität ist längst und fast perfekt vermarktet und den Gesetzen des Marktes unterworfen. Der menschliche Körper - eine Ware, zum Kaufen, zum Aufgeilen, zum Vernaschen, zum Wegwerfen. Wisch und weg! Mädchenhandel, im großen Stil kommerzialisierte Prostitution, Kinderpornographie, Sex-Tourismus - alles Symptome eines expandierenden Marktes, rund um den Globus, rund um die Uhr.

Die religiöse Dimension

Auch die Religion bleibt von der Marktmentalität nicht unbetroffen. Wie sehr sich der Markt der Religion bemächtigt, wird daran deutlich, daß den klassischen Religionen ein absoluter Geltungsanspruch mehr und mehr abgesprochen wird. Dies geschieht in der Regel mit dem Vorwand, anderen Religionen Toleranz und Achtung entgegen zu bringen. In Wirklichkeit aber steckt dahinter eine Marktideologie, die auch Religionen wie grundsätzlich gleichrangige Produkte im Supermarkt nebeneinander stellen, sie also wie ein Warensortiment behandeln will. Religionen werden als Waren auf dem Markt verramscht. Sie müssen um Marktanteile kämpfen. Sie werden nebeneinander gestellt zur Selbstbedienung durch den Verbraucher. Das hermeneutische Modell, das dahinter steckt, ist der Supermarkt. Es geht nicht mehr um die Wahrheit an sich, sondern um die Absetzbarkeit eines Produkts, um seine Konsumierbarkeit. Das ist wie mit den Einschaltquoten im Fernsehen. Gott kommt auf diesem Markt vor als Seelentröster, als Analgeticum. Alles ist irgendwie wahr, solange es nur als anspruchslos und irgendwie wohltuend erlebt wird, eben im Dienste der wellness steht. Religionen werden zu Therapiestrategien und unverbindlichen Lebenshilfen, die man braucht wie ein Hausapotheke. Ihre Wahrheit bemißt sich nach ihrem Nutzen. Das Christentum, das einen als Verbrecher Hingerichteten in den Mittelpunkt stellt, hat kaum mehr Chancen auf dem Markt der Religionen.

Das entspricht durchaus den Erfahrungen, die wir heute machen. In Kirchen kann man eintreten, aus ihnen kann man austreten, nur weil einem der Papst nicht paßt. Der Esoterik-Markt boomt. Menschen probieren einmal dieses und einmal jenes aus. Dahinter steckt ja wohl die von der Marktlogik insinuierte Einstellung, ein Markenartikel müsse den Erwartungen des Verbrauchers entsprechen. Andernfalls hat man Rückgaberecht mit Geld-zurück-Garantie. Ebenso sollen dann auch Religionen den Erwartungen entsprechen. Werden die Erwartungen enttäuscht, schaut man sich nach etwas anderem um.

IV. PHILOSOPHISCH-THEOLOGISCHE REFLEXION DIESER BESTANDSAUFNAHME


In unserer gewiß lückenhaften und unvollständigen Bestandsaufnahme zeigt sich, daß der Markt nicht nur eine Wirtschaftsform, sondern zu einer Lebensform geworden ist. Diese Lebensform ist zumindest in den westlichen Industrieländern vorherrschend. Sie erobert mehr und mehr auch Osteuropa und Asien. Die Welt wird zum Markt, und zwar in vielerlei Hinsicht.

Der Markt meldet offenbar den Anspruch an, alles Leben und Denken der Menschen zu beherrschen. Es ist kaum möglich, sich seiner Logik und seinen Gesetzen zu entziehen. Die praktische Lebensform aber verschleiert, was dahinter steckt.

Die Neuzeit wird auch als eine Befreiungsgeschichte gesehen und gefeiert. Aufklärung und Emanzipation und Autonomie sind die großen Worte dieser Zeit. Die Menschheit wollte sich befreien aus dem, was sie entmündigte. Der feudale Staat wurde umgestürzt, alle wichtigen Bereiche wie z. B. die Pädagogik wurden aufgeklärt. Freiheit der Wissenschaft, Freiheit der Kunst, Emanzipation der Frau, autonome Moral - um nur einige Stichworte zu nennen, an denen sich dieser Prozeß fortschreitender Befreiung festmachen läßt. Besonders die Kirche mußte Federn lassen, galt sie doch neben dem Feudalismus als entmündigende Instanz. Und schließlich wurde auch Gott für tot erklärt, und zwar um des Menschen willen. "Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe", läßt Friedrich Nietzsche seinen Zarathustra ausrufen. Der Mensch erträgt auch Gott nicht mehr. Er will sich frei machen von allen Totalitäten.

Dieser Emanzipationsprozeß ist über weite Strecken völlig berechtigt. Und niemand unterstreicht die Freiheit des Menschen so sehr wie die christliche Botschaft. Aber das NT ruft auch zur Wachsamkeit auf (vgl. z. B. Mk 13,33-37). Und an dieser Wachsamkeit hat es wohl oft gefehlt. Die Tragik, die in diesem Prozeß lag, führte die Menschheit wieder in unglaubliche Totalitarismen: die Deutschen in den Nationalsozialismus mit seinem totalitären, zerstörerischen und menschenverachtenden Herrschaftsanspruch und halb Europa in den Kommunismus mit seinem auch universal angemeldeten Totalitätsanspruch. Aus diesen Erfahrungen wird vielleicht verständlich, warum sich viele heute gegen jeden unbedingten Wahrheitsanspruch z. B. der Religionen wehren und deshalb einen unüberschaubaren Supermarkt-Pluralismus vorziehen. Dieser Pluralismus ohne ordnende Mitte, ohne inhaltlichen Grundkonsens, gibt das Gefühl einer großen Freiheit. Aber es ist nur ein Gefühl von Freiheit. Und dieses Gefühl könnte sich am Ende wieder als eine große Illusion entpuppen. Denn der Markt und seine Logik wird zur alles bestimmenden Totalität des Menschen. Er kann dann nicht mehr anders denken als in den Kategorien von Angebot und Nachfrage, von Marktwert und Absetzbarkeit, von Kaufen und Verkaufen. Der Markt nimmt totalitäre Züge an. Der Mensch wird selbst zur Ware. Alles wird relativiert, austauschbar und wegwerfbar. Am Ende wissen wir nicht mehr, wohin die Reise unseres Lebens geht. Das Leben wird zu einem großen Supermarktbesuch, wo jeder sich das aussucht, was ihm paßt. Wahrheit wird allenfalls subjektiv kombinatorisch verstanden: Man stellt sich aus vielem etwas zusammen, was den eigenen Erwartungen entspricht. Wie ein paar Schuhe, das mir paßt. Aber es paßt nicht dir.

Sperrt der Markt den Menschen damit nicht wieder ein? Wird er so nicht zum einzigen Lebens- und Sterbehorizont der Menschen? Denn die Grenzen des Marktes sind dann auch die Grenzen unserer Welt, um Wittgenstein zu variieren. Und die Logik des Marktes versucht zu verhindern, daß die Religion diese Grenzen aufsprengt, indem die Religion selbst zu einer Ware neben anderen gemacht wird. Privatisierte und individualisierte Religion ist marktintegriert. Solche Religion eignet sich nicht mehr für eine alle Grenzen sprengende religiöse Kraft. Religion wird depotenziert und kastriert. In früheren Befreiungsbewegungen hat Religion auch eine positive und widerständige Rolle gespielt, in jüngster Zeit auch in Polen und in der DDR. Die Religion stand quer zum System, kritisierte die Verhältnisse, leistete Widerstand, sprengte Grenzen auf, indem sie die Grenzen des Systems offenbarte. Die Religion des Marktes aber lullt die Menschen ein und insinuiert ihnen seelischen Trost.

Gleichzeitig etablieren sich andere Mächte, die über der Menschheit walten. Die Marktwirtschaft könnte man als Naturalisierung ihrer Gesetze sehen. Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sie funktioniert, werden als Naturgesetze interpretiert, die nicht mehr kritisierbar sind und für die auch niemand mehr verantwortlich zu machen ist. Sie werden hingenommen. Dann aber wird Arbeitslosigkeit zum Schicksal, Armut wird zum notwendigen Opfer in einer Megamaschine, die den meisten doch Wohlstand und Glück verheißt. Und über uns walten Mächte wie die Konjunktur, der Dollarkurs, der Dow Jones-Index, die wie fast metaphysische Kräfte unser aller Leben bestimmen, die offenbar wie das Wetter nicht beeinflußbar sind und von denen wir hoffen, daß sie uns gnädig bleiben.

Der Markt wird so zum geschlossenen System, das bereits alles Leben in sich enthält und verbietet, darüber hinaus zu hoffen und Erwartungen zu haben, die alle Vorstellungen überschreiten. Besonders deutlich ist mir das an der Architektur des neuen Modekaufhauses Lafayette in Berlin geworden. Wenn man dieses gigantische Kaufhaus betritt, steht man wie in einem überdimensionalen Osterei. An den nach oben konvergierenden Wänden sind die Verkaufsetagen übereinander angeordnet. Man geht also immer im Kreis. Aber eine Mitte gibt es nicht. Alles ist rund. Eine runde Sache. Das ganze ist in sich geschlossen, abgeschlossen. Es versorgt sich selbst. Es genügt sich selbst! Es gibt nur künstliches Licht. Nur oben in der Spitze des Ostereis ist eine kreisrunde Öffnung, durch die Licht einfällt. Doch das ist wie der Blick ins Leere, ins Weltall. Ganz anders als in einer christlichen Kathedrale, die ebenfalls dunkel ist. Das Licht fällt von außen herein, aber nicht als leeres, ungestaltetes Licht, sondern durch die bunten Glasfenster als gestaltetes Licht: als Christus oder als Gestalt aus der Heilsgeschichte. Kaufhaus und Kathedrale, zwei ganz verschiedene Botschaften: die Fenster der Kathedrale sagen: bei uns ist es finster, wir sitzen im Dunkel und können uns nicht selber erleuchten. Das Licht kommt von außen, von Gott. Wir sind leer, die Fülle kommt von Gott. Die Message des Kaufhauses lautet: Draußen ist die Leere, hier ist die Fülle. Das ist seine Illusion. Ohne eine Perspektive der Ewigkeit läßt sich diese Illusion wohl kaum aufdecken. Dann aber müssen wir fortfahren, alles aus der Welt herausholen, was drin ist. Bis nichts mehr da ist.

Was ich damit sagen will, ist dies: Wir sollten wachsam sein. Damit es nicht ein böses Erwachen gibt.

Wenn diese KONSUMENTA dazu beiträgt, uns nachdenklich und kritisch, ja selbstkritisch zu machen, so wüßten wir ihr Dank.