Unter welchen Bedingungen ist katholisch-evangelische Kirchengemeinschaft möglich?
Diese Frage muß im ganzen unseres Glaubens, und zwar in radice und nicht erst und nicht nur bei den Symptomen beantwortet werden. Denn Kirchengemeinschaft setzt unbedingt Glaubensgemeinschaft voraus. Die katholische Kirche geht prinzipiell vom Bestehen der Glaubensgemeinschaft mit allen christlichen Kirchen aus, die auf dem Boden der altkirchlichen Glaubenssymbole stehen. So bescheinigt das 2. Vatikanische Konzil allen christlichen Kirchen: "Sie alle bekennen sich als Jünger des Herrn, aber sie weichen in ihrem Denken (!) voneinander ab [diversa sentiunt] und gehen verschiedene Wege, als ob Christus selber geteilt wäre" (Unitatis redintegratio, prooemium). Die folgenden Thesen wollen dabei helfen, sich über diese bestehende Glaubensgemeinschaft zu verständigen. Das diesen Thesen zugrunde liegende Denken ist relational-ontologisch.
I. Worum geht es in unserem Glauben?
1. In unserem Glauben geht es um die Überwindung des von Adam her auf uns gekommenen Verlustes der Gemeinschaft des Menschen mit Gott, mithin um die Überwindung der vom Menschen her unüberwindlichen und für ihn unerträglichen Gottferne, die ihn immer wieder dazu treibt, Geschöpfliches zu vergötzen. Im Glauben geht es also um ein neues Gottesverhältnis des Menschen.
2. Weil dieses neue Verhältnis des Menschen zu Gott an unserer erfahrbaren Wirklichkeit nirgendwo abzulesen ist (es ist "Geheimnis"), muß es zu ihr "im Wort" dazugesagt werden. "Der Glaube kommt vom Hören, das Hören aber vom Wort Christi" (Röm 10,17). Jesus von Nazaret als das Wort Gottes (vgl. Joh 1) ermöglicht uns dieses neue Gottesverhältnis. Seine Botschaft nimmt uns hinein in sein einzigartiges Verhältnis zu dem Gott, den er als "Vater" anredet. Er ermöglicht auch uns diese Gottesanrede (vgl. Mt 6,9par), weil er auch uns in sein Verhältnis zu Gott hineinnimmt (vgl. Joh 19,25-27; 20,17) und uns so "Macht" gibt, "Kinder Gottes zu werden" (Joh 1,12). Dieses Gottesverhältnis Jesu, an dem wir partizipieren, ist der Heilige Geist (vgl. Röm 8,14-17; Gal 4,6f).
3. Im christlichen Sinne glauben heißt also, sich von Gott in verläßlicher Weise mit derselben unbedingten Liebe angenommen wissen, mit der er von Ewigkeit her seinem Sohn zugewandt ist und die als der Heilige Geist Gott selber ist (vgl. Joh 17,20-26). Der Mensch wird also hineingenommen in eine vorgängig zu ihm bestehende Relation Gottes auf Gott. Allein in diesem trinitarisch-inkarnatorisch-pneumatologischen Gottesverständnis ist es möglich, Gottes Liebe zum Menschen so auszusagen, daß sie nicht an uns oder an sonst etwas Geschöpflichem ihr Maß hat, sondern am Sohn. Damit ist sie mit Gott identisch (vgl. 1 Joh 4,16). Sie ist eine Liebe, wie sie größer nicht mehr gedacht werden kann (Anselm v. Canterbury). Allein dieses Geheimnis, das verkündet sein will, kann im strengen Sinne Glauben beanspruchen.
II. Was ist Kirchengemeinschaft?
4. Die christliche Botschaft ermöglicht nicht nur ein neues Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern sie bringt auch die Menschen, die sie annehmen, in ein neues Verhältnis zueinander, das der Heilige Geist selber ist. Das Verhältnis der Christen zueinander ist eine Weise ihres Verhältnisses zu Christus (vgl. Mt 25). Dieses neue sichtbare Miteinander von Menschen im Heiligen Geist ist die Kirche. In der katholischen Kirche wird sie "Sakrament des Heils" (vgl. Lumen gentium 1) genannt, weil sie die sichtbare Wirkung des Wortes Gottes und nicht aus natürlichen Vorgegebenheiten ableitbar ist (vgl. Joh 1,12f).
5. Zwischen evangelischen und katholischen Christen besteht Übereinstimmung im Glauben, insofern sie sich sola gratia in diesem neuen Verhältnis zu Gott wissen, das der Heilige Geist ist. Deshalb spricht das 2. Vatikanische Konzil von einer "vera quaedam in Spiritu Sancto coniunctio" (Lumen gentium 15) zwischen den Christen der verschiedenen Konfessionen. Eine solche wahre Verbindung im Heiligen Geist ist jedoch in der Sache durch keine weitere ökumenische Bemühung mehr zu steigern, sondern nur noch (auf der sakramentalen Ebene) sichtbar zu machen. Die Spaltung der Kirche scheint zu verneinen, was in Wirklichkeit schon besteht: unüberbietbare Gemeinschaft im Heiligen Geist. Damit aber ist Kirchengemeinschaft zwischen katholischen und evangelischen Christen grundsätzlich möglich und im Prinzip bereits gegeben.
6. Tatsächlich gibt es zwischen katholischen und evangelischen Christen Verstehensdifferenzen in bezug auf verschiedene Glaubensaussagen (Rechtfertigung, Kirche, Amt, Wort und Sakrament). Handelt es sich dabei um verschiedene "Glauben"? Diese Frage ist zu verneinen, weil es letztlich nicht gelingt, Glaubensaussagen, die dennoch falsch wären, überhaupt herzustellen. Alle Glaubensaussagen können nur verstanden werden als Weiterentfaltung der einen Aussage, daß wir von Gott mit derselben Liebe angenommen sind, mit der er von Ewigkeit her seinem Sohn zugewandt ist und die der Heilige Geist ist. Jede weitere Glaubensaussage muß sich als immer schon in dieser Aussage impliziert erweisen können; sonst ist sie keine Glaubensaussage. Der Glaube besteht also nicht aus einer Vielzahl zueinander zu addierender Glaubenswahrheiten, von denen die eine Kirche mehr und die andere weniger hätte, woran man dann den Grad der Rechtgläubigkeit messen könnte.
7. Die katholische Kirche bestätigt, daß auch die Christen der Reformation durch die Taufe Christus inkorporiert sind: "Nichtsdestoweniger sind sie durch den Glauben in der Taufe gerechtfertigt [iustificati ex fide in baptismate] und Christus eingegliedert [Christo incorporantur], darum gebührt ihnen der Ehrenname des Christen, und mit Recht werden sie von den Söhnen der katholischen Kirche als Brüder im Herrn anerkannt." (Unitatis redintegratio 3,1) Es widerspräche dieser Aussage, wollte man die Trennung in der Kirche als die (groteske) Aufspaltung in verschiedene "Glauben" verstehen. Eine vollkommenere Verbindung als "Brüder [Geschwister] im Herrn", also als Gemeinschaft im Heiligen Geist, aber kann es nicht geben. Die Trennung der Kirchen kann also nur auf gegenseitigen Mißverständnissen beruhen, die sich vom Grundverständnis unseres gemeinsamen Glaubens her aufarbeiten lassen. Genau genommen gibt es keine Aufspaltung in verschiedene Kirchen, sondern nur eine Spaltung innerhalb der einen Kirche. Vgl. dazu die Aussage des 2. Vatikanischen Konzils: "Aber gerade die Spaltungen der Christen sind für die Kirche ein Hindernis, daß sie die ihr eigene Fülle der Katholizität in jenen Söhnen wirksam werden läßt, die ihr zwar durch die Taufe zugehören, aber von ihrer völligen Gemeinschaft getrennt sind. Ja, es wird dadurch auch für die Kirche selber schwieriger, die Fülle der Katholizität unter jedem Aspekt in der Wirklichkeit des Lebens auszuprägen" (Unitatis redintegratio 4,10). Analog zur Sakramentenlehre kann man also sagen: Was in re bereits gegeben ist, wird durch das sacramentum, d. h. durch die tatsächliche Verfassung der Kirche noch nicht sichtbar gemacht.
8. Wenn die katholische Kirche sagt: "Haec Ecclesia, in hoc mundo ut societas constituta et ordinata, subsistit in Ecclesia catholica" (Lumen gentium 8,2), dann wird damit nicht ausgeschlossen, sie sei auch in anderen christlichen Kirchen verwirklicht. Könnte nicht jede christliche Kirche zu Recht diese Aussage auch für sich machen? Entscheidend ist, daß von der evangelischen Kirche nicht behauptet wird, sie sei unkatholisch, und daß die evangelische Kirche von der katholischen nicht sagen kann, sie sei unevangelisch. Beide Bezeichnungen sind als Normbegriffe zu sehen, denen jede Kirche zu entsprechen hat.
III. Ziel ökumenischer Bemühungen
9. Bei der Weiterentfaltung des Glaubens sind in der Tat Ungleichzeitigkeiten, Unverständlichkeiten und Unvollkommenheiten möglich. Der Grad der Explikation kann in den verschiedenen Kirchen - aus welchen Gründen auch immer - verschieden sein. Dieses Phänomen begegnet bereits im NT. Doch niemand würde auf den Gedanken kommen, Mk als häretisch zu bezeichnen, weil er die Gottessohnschaft Jesu noch nicht auf ihre in ihr implizierten Präexistenz hin reflektiert hat, sondern sie noch einigermaßen adoptianistisch versteht. Nur die Kunst des Ineinander-Übersetzens der verschiedenen Theologien im NT kann vor dem Mißverständnis bewahren, es handle sich nicht um ein und denselben Glauben. Tatsächlich hat die Kirche mit ihrer Kanonentscheidung die Übereinstimmung aller ntl Autoren im Glauben festgestellt
10. Die verschiedenen Theologien sind ein Ausdruck dafür, daß der eine Glaube in verschiedenen Sprachen und Sprachspielen ausgesagt werden kann. Dabei kann es schwer sein, in der Sprache des anderen noch denselben Glauben wiederzuerkennen. (Man kann mit römischen und mit arabischen Ziffern grundsätzlich richtig rechnen.) Ökumenische Bemühung besteht deshalb in erster Linie im Dolmetschen verschiedener theologischer Sprachen. (Könnte hier nicht die von allen anerkennbare Aufgabe des Petrusamtes in der Kirche liegen: die Übereinstimmung aller im Glauben festzustellen?) So stand z. B. am Ausgangspunkt der Kirchenspaltung die Frage nach der Rechtfertigung des Sünders. Dem "sola fide" der Reformatoren gegenüber beharrte das Trienter Konzil auf "fides et opera". Beide Aussagen scheinen sich zunächst zu widersprechen. Erst wenn man genau hinsieht, entdeckt man, daß beide Seiten unter "fides" offenbar etwas Verschiedenes verstanden und doch der Sache nach dieselbe Aussage machen wollten. Während das "sola fide"-Prinzip uns Katholiken daran erinnert, daß geschöpfliche Qualität (= unsere Werke) niemals ausreichen kann, um Gemeinschaft mit Gott zu begründen, weist das Tridentinum mit seiner Formel darauf hin, daß eine bloße "fides informis" (= bloßes Fürwahrhalten oder weltanschauliches Bejahen der fides quae) im Unterschied zur "fides caritate formata" (= ein Vertrauen, das von der Liebe durchformt ist) noch nicht die Rechtfertigung des Sünders sein kann und deshalb nach Jak 2,14-19 tot ist. Dementsprechend sagt die katholische Kirche: "Zugleich muß aber der katholische Glaube tiefer und richtiger (!) ausgedrückt werden [profundius et rectius explicanda est] auf eine Weise und in einer Sprache, die auch von den getrennten Brüdern wirklich verstanden werden kann" (Unitatis redintegratio 11,2).
11. Ziel der Ökumene muß es sein, festzustellen, daß wir in Wirklichkeit im Glauben übereinstimmen. Das impliziert nicht unbedingt die rechtliche Vereinigung der verschiedenen Kirchen zu einem Kirchenkörper, wohl aber die gegenseitige Anerkennung verschiedener legitimer christlicher Traditionen und den Verzicht darauf, einander aufgrund gegenseitiger Mißverständnisse die Rechtgläubigkeit zu bestreiten. Beim Abbau von Mißverständnissen genügt es, wenn jeder bei sich selbst anfängt (vgl. Mt 7,3-5).
12. Die grundsätzliche Möglichkeit von Kirchengemeinschaft impliziert die grundsätzliche Möglichkeit von Eucharistiegemeinschaft. Mißverständnisse in diesem Punkt dürften unter Christen behebbar sein, zumal ein christlicher Gottesdienst immer die Feier der Gegenwart Christi ist und nicht seiner Abwesenheit. Was für das Wort gilt, nämlich daß es Gemeinschaft mit Gott wahrhaft und wirklich mitteilt, kann dem Sakrament evangelischerseits nicht zu Recht abgesprochen werden. Ein biblisches Beispiel, das sich für das ökumenische Miteinander umsetzen ließe, ist Apg 10,47, wo Petrus sagt: "Kann jemand denen das Wasser zur Taufe verweigern, die ebenso wie wir den Heiligen Geist empfangen haben?".
13. Können die Unsicherheiten bezüglich der Legitimität des Amtes ausgeräumt werden? Könnte man sich nicht darauf einigen, daß das Amt in der Kirche der institutionalisierte Ausdruck dafür ist, daß der Glaube als das Erfülltsein vom Heiligen Geist für die Gemeinde und für die Kirche als ganze noch immer vom Hören kommt? Kann unser Glaube überhaupt anders als in persona Christi verkündet und sakramental gefeiert werden, egal ob das amtlich (in persona Christi capitis) oder nicht-amtlich geschieht? Zu den Unsicherheiten bezüglich der apostolischen Sukzession: Was hindert unsere (katholischen und evangelischen) Bischöfe eigentlich daran, sich in einer Haltung der Demut noch einmal gegenseitig (sub conditione) die Hände aufzulegen und damit den Streit um das Amt ein für allemal zu begraben? [Dabei bräuchten die evangelischen Amtsträger nicht zu befürchten, ihr Amt würde dadurch erst gültig gemacht. Eine solche Kooptationshandlung könnte katholischerseits verstanden werden in Analogie zur "sanatio in radice" einer Ehe. Eine solche kann nur deshalb im nachhinein für gültig erklärt (nicht gültig gemacht) werden, weil sie ontologisch schon gültig war.]